Antiphonale - Neue Musik im sakralen Umfeld
Antiphonale
Neue Musik in der Kirche eröffnet ein Spannungsfeld, das von vielen Vektoren und von ebenso vielen widerstrebenden Kräften bestimmt ist, die miteinander kaum zu vermitteln sind. Als unmöglich sehen wir es an, solche Spannung zu halten. Unsinnig, sie überhaupt als ein "Feld" aufbauen zu wollen. Die alten Rituale, "strahlend klar", sind historisch, ästhetisch, Sediment der Geschichte, vergangen. Sie sind aufgehoben im Sinn von aufbewahrt und beseitigt, nicht im dritten Sinn dieses Wortes, wie Hegel es dachte, auf eine andere Stufe gehoben und somit neu gültig. Die "Übung der schweigenden Meditation" wäre als Alternative uns angemessen.
Lebt die Liturgie des christlichen Gottesdienstes nicht eben von dieser Spannung der alten Rituale und der Neuen Musik, und der aus ihr entwachsenen geistlichen Musik? Existiert sie nicht aus dieser Spannung von Tradition und Gegenwart, von Festgefügtem und Offenem? Wird sie nicht darum und deswegen immer wiederholt?
Tradition bedeutet: "Empfangen und Weitergeben. Also geht es einmal darum, das Überkommene aufzunehmen, anzunehmen, seine Gehalte verinnerlichend zu bewahren, zum anderen aber darum, dieses Überkommene weiterzuführen, anderen zu übertragen und übersetzen - was zugleich ein Überschreiten beinhaltet: nicht bei dem stehen bleiben was ist, sondern es aufheben als ein Lebendiges und es grenzüberschreitend weiterreichen. Das bedeutet, das Überkommene eben nicht als Sedimentiertes, sondern als Potential zu sehen, und dafür zu sorgen, dass die ihm innewohnende Kraft wirksam zu werden vermag. So verstanden ist Tradition ein Lebensprozess, der ansetzt in der Erkenntnis der latenten, aber auch glühenden Kraft des vermeintlich Alten, und der sodann ihre Entbindung und weiterführende Entfaltung in sich schließt."
(Dieter Schnebel)